Mit einem Rucksack voller Träume und nur dem Nötigsten zog ich, Julia Klammer (MJ 2022), in die Schweizer Berge. Ein schmaler Steig, der sich steil durch eine Schlucht wand, führte mich zu einem Ort, an dem das Leben anders tickte – rauer, ehrlicher und beeindruckend schlicht. Drei Monate fernab der Zivilisation.
Ein Zuhause in den Wolken
Schon der Weg zu meinem neuen Zuhause war ein Abenteuer: Der einzige Zugang zur Alm war ein schmaler Steig, der sich an Felswänden entlang zog und atemberaubende Blicke in die Tiefe freigab. Kein Auto, keine Straßen – nur zu Fuß, mit jedem Schritt dem Alltag ein Stück weiter entrückt, erreichte ich die urige Hütte, die für drei Monate mein Zuhause wurde.
Dort erwartete mich eine vielseitige Truppe: Seniorchef Bonifaz, ein Bergbauer durch und durch, der junge Schafhirte Tim und das Helfer-Duo Mio und Davy. Auch unsere vier Hirtenhunde – Nero, Luna, Kira und Laika – gehörten dazu und wurden bald zu unersetzlichen Begleitern.
Die Alm selbst war eine Welt für sich: 150 Rinder, darunter vier Milchkühe, prägten unseren Alltag. Jeden Morgen ging es in den alten Stall, um frische Milch mit dem Standeimer zu gewinnen – ein Teil diente der Eigenversorgung, der Rest den Kälbern. Neben drei Hühnern, die für Frühstückseier sorgten, bevölkerten rund 750 Schafe und fünf Ziegen die weitläufigen Weiden.
Arbeit am Limit: Zwischen Steilhängen und Wetterlaunen
Die Idylle der Alm hatte ihre Tücken. Die steilen Hänge verlangten nicht nur den Tieren, sondern auch uns Menschen einiges ab. Jeder Schritt musste sicher sein, gutes Schuhwerk war unverzichtbar, und oft forderte die Arbeit unsere Ausdauer bis zum Äußersten.
Unser Alltag begann früh: Der Stall musste gemacht, Tiere kontrolliert und Weidezäune errichtet werden. Die Wasserversorgung war eine permanente Herausforderung, und immer wieder mussten wir neue Wege graben, wenn Unwetter alte zerstört hatten. Besonders nach Regenfällen war Teamarbeit gefragt, um die Steige für die Tiere wieder begehbar zu machen – ein Balanceakt, der Geduld und Geschick erforderte.
Wenn das Essen zur Kunst wird
Frische Lebensmittel waren ein Luxus. Einmal in der Woche brachte jemand Nachschub, doch die Grundversorgung wurde schon im Frühjahr per Helikopter hinaufgeflogen – von Mehl über Zucker bis zu Kartoffeln. Diese Vorräte zwangen uns zu Kreativität: Jede Mahlzeit wurde zu einem kleinen Kunstwerk, vieles stammte direkt von der Alm. Die einfachsten Gerichte schmeckten hier oben besser als jedes Festmahl.
Ein Abschied im Schnee
Der Sommer endete plötzlich. Frühe Schneefälle zwangen uns, die Alm eine Woche früher zu verlassen als geplant. Mit einer großen Helfergruppe brachten wir die Rinder sicher ins Tal, Schritt für Schritt, um Gedränge zu vermeiden. Die Schafe blieben auf der Alm zurück – ein Grund für uns, ein letztes Mal zurückzukehren.
Als wir die verschneite Alm erneut betraten, bot sich ein Bild wie aus dem Märchen: weiße Hänge, eisige Stille und eine Hütte, die vom Winter umarmt wurde. Doch die Schönheit dieses Anblicks hatte auch ihre Schattenseite. Unsere Wasserversorgung und die stromerzeugende Turbine waren vom Schnee lahmgelegt, sodass wir auf den Brunnen und Kerzenschein angewiesen waren. Bevor wir uns um die Tiere kümmern konnten, hieß es: Schnee schaufeln, bis die Arme brannten.
Intensives Leben in Einfachheit
Die letzte Woche verging wie im Flug. Der Schnee begann zu schmelzen, doch die winterliche Magie blieb. Schließlich hieß es Abschied nehmen – mit einem Rucksack voller Erinnerungen, dem vertrauten Glockenläuten der Schafe und einem Herzen, das sich schwertat, diesen Ort zu verlassen. Jeder Tag auf der Alm war eine Herausforderung, aber auch eine Bereicherung. Hier oben, fernab von Straßen und Menschenmassen, wurde klar: Man lebt intensiver, wenn man sich auf das Wesentliche beschränkt.
Der Text ist in der Absolventenrundschau 189 – Dezember 2024 erschienen.